Dem Elend so nah
Nach unserer Tour nach La Guajira, zum nördlichsten Teil Kolumbiens, suchten wir uns ein Café und beschlossen, Kaffee-Kuchen-Zeit zu machen. In einer kleinen Seitenstraße, etwas abseits vom Trubel am Malecón, wurden wir fündig. In der Vitrine standen mehrere Torten und Kuchen. Genau das, was wir jetzt suchten. Nach unserer Bestellung setzten wir uns raus in den Schatten. Dort hatten wir einen guten Spot um Leute zu beobachten. Wir unterhielten uns gerade über die Fahrt und unsere bisherige Reise, als zwei Jungs zu uns kamen. Gewohnt daran, dass diese einem nur etwas verkaufen wollen, blockte ich direkt mit einem „No Gracias“ ab, doch Nadine hörte richtig zu. Die zwei wollten lediglich wissen, woher wir kamen. Der Jüngere von beiden fing an zu raten: „Brasilien?“ Wir beide schüttelten den Kopf. Nun waren beide im Ratefieber. „Frankreich?“ „Knapp daneben. Ein Land neben an.“ Der Jüngere fing an zu überlegen, während der Ältere „Irland“ sagte und dabei lachte, als ob er gewonnen hätte. Aber nein, Irland war es auch nicht. Der kleine tippte mit Spanien fast richtig und so erzählten wir ihnen, dass wir aus Deutschland kommen, Nadine aber in Australien lebt – dem Land der Kangaroos und Koalabären. Da wurden beide hellhörig. Kangaroos? Das kannten sie nicht. Und auch von Koalabären hatten sie noch nichts gehört. „Zeigt uns Fotos!“ Natürlich wollten wir dieser Bitte nachkommen, doch leider ging in dem Moment das Internet nicht und wir konnten ihnen keine Bilder zeigen. Stattdessen wurden wir von den beiden ganz viel gefragt. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, dass sie aus Venezuela kommen. Der Ältere heißt Daniel und ist 13, während der Jüngere Alejandro heißt und 11 Jahre alt ist. Wir fragten, ob sie hier spielen würden. Sie schüttelten mit dem Kopf und Alejandro flüsterte: „Wir betteln um Essen.“ Wie auf Kommando kam unsere Bestellung: Käsekuchen und Ferrero-Rocher-Kuchen. Die Kinderaugen wurden größer und folgten dem Tablett. Dann standen sie auf, wünschten uns guten Appetit und verschwanden wieder. Nun verstanden wir. Es waren venezolanische Flüchtlinge. Und anscheinend mussten sie ihr Essen auf der Straße erbetteln. Wir hatten Mitgefühl mit den beiden und auch ein schlechtes Gewissen, weil wir zur Freude Kuchen essen konnten, während die beiden betteln mussten.
Nachdem wir unseren Kuchen gegessen hatten, kamen die beiden wieder und wollten mehr von uns erfahren. Auch wollten sie unbedingt die Kangaroos sehen. Sein kleiner Bruder (8 Jahre) gesellte sich ebenfalls zu uns und lauschte den Erzählungen über Kangaroos und Koalas. Kurze Zeit später kam Marco (14 Jahre) hinzu. Er zeigte uns seinen Collegeblog mit englischen Vokabeln die er gerade lernt. „Habt ihr das gerade in der Schule?“ fragten wir. „Es sind noch Ferien. Schule fängt erst nächste Woche an“, erklärt Marco. „Welche Fächer habt ihr denn noch in der Schule?“ „Wir gehen nicht in die Schule. Wir sind seit 7 Monaten hier und durften bisher nicht in die Schule und in Venezuela waren alle Schulen geschlossen.“ Wir sind geschockt. Sie erzählen uns, dass sie noch nie in der Schule gewesen sind. Daniel und einige anderen können weder schreiben noch lesen. Er wird nächste Woche in die erste Klasse kommen. Marco bringt sich über die Bibliothek selbst Englisch bei. Nadine geht mit ihm einige Vokabeln durch und hilft ihm bei der Aussprache. Auch die anderen Jungs sind fleißig dabei die englischen Worte nachzusprechen. Nun kommt auch noch ein dritter Bruder von Alejandro hinzu. Er ist 3 Jahre alt. Alle drei sehen aus wie aus einer Gussform, nur eben in unterschiedlicher Größe. Ich frage nach, wieviele Geschwister er noch hat. Er überlegt kurz: „Ich habe 6 Brüder und 3 Schwestern. Und meine Mama ist gerade wieder schwanger. Sie ist 39 Jahre alt.“ Puh. Das muss man auch erstmal sacken lassen. 39 Jahre alt, 10 Kinder und kein Geld um sie zu ernähren.
Als der Kellner kam um unsere Tassen und Teller abzuräumen, griff Alejandro nach den 4 Zuckertütchen und verteilte sie an seine Brüder und Freunde. Sogleich rissen sie die Packungen auf und schütteten sich den klebrigen Inhalt in den Mund. „Zucker ist aber sehr ungesund für eure Zähne“, tadelt Nadine, doch das ist den Jungs egal. „Ich hab aber hunger“, gibt Alejandro trotzig zurück. „Zucker macht doch nicht satt“, sagt eine von uns, doch Alejandro schaut uns nur mit seinen großen dunklen traurigen Augen an, öffnet die Zuckertüte ganz um auch die letzten Zuckerkörnchen zu ergattern und presst ein „Mich schon“ hervor. Wir fragen, ob ihre Eltern nichts kochen würden. „Manchmal“, ist die Antwort, „doch es reicht nie für alle.“ Anscheinend haben alle Familien sehr viele Kinder und daher gibt es nie genug. Das Elend dieser Kinder trifft mich wie ein Schlag. Wie sie da sitzen und so großen hunger haben, dass sie Zuckertüten abschlecken. Ich merke, wie mir die Tränen kommen, will aber nicht, dass die Kinder das mitbekommen. Ich entschuldige mich und gehe auf die Toilette. Dort lasse ich meinen Tränen freien lauf. Es sind venezolanische Flüchtlinge, die zwar hier in Kolumbien aufgenommen wurden, aber um die sich keiner kümmert. So müssen die Kinder auf der Straße nach Essen und Geld betteln. Nachdem ich mich wieder unter Kontrolle hatte, bin ich an die Bar, um 5 Käsebrote zu bestellen. Wenigstens sollten sie für den Moment etwas im Magen haben. Und es machte auch viel Spaß sich mit ihnen zu unterhalten und auszutauschen.
Als ich wieder raus kam, waren auf einmal noch zwei Mädchen mit dabei. Alle wollten sie die „Alemanas“ kennenlernen und Fotos von Kangaroos sehen. Jetzt funktionierte auch das Internet und wir konnten ihnen einige Fotos zeigen. Die Kinder waren fasziniert und freuten sich über jedes Bild. Das eine Mädchen zupfte mich am Ärmel: „Hast du eine Mama?“ Über diese Fragestellung war ich etwas verwirrt und gab lachend „Natürlich habe ich eine Mama“ von mir. Später wurde mir klar, dass dieses Mädchen von vielleicht 7 Jahren keine Mama mehr hatte und deshalb die Frage so stellte. Doch ihre Augen leuchten bei meiner Antwort und sie lächelt, „Zeig mir ein Foto von deiner Mama!“ Und schon war wieder eine Traube Kinder um mich, während ich Familienfotos zeigte. Von meiner Mutter, meiner Oma und weiteren Cousinen.
Wir verbrachten noch einige Zeit mit den Kindern, doch langsam wurde es Zeit für uns aufzubrechen. Der Abschied dauerte lang und war herzlich. Jeder wollte eine Umarmung und manche auch zwei. Mir brach es fast das Herz die Kinder einer ungewissen Zukunft in einem Land zu lassen, welches sich anscheinend nicht für das Schicksal von Flüchtlingen interessiert.